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Moco Roof Keith Haring Grace Jones

Simon Doonan über Keith Haring: AIDS und das New York der 1980er-Jahre

Fast so, als hätte er gewusst, dass seine Zeit auf diesem Planeten begrenzt sein würde, schuf der bekennende Workaholic Keith Haring in seinem kurzen Leben ein tiefgreifendes Werk, das so ikonisch ist, dass es auch heute noch relevant ist.

Sein unverwechselbar fröhliches Vokabular von Bildern und Symbolen mit ihren dicken schwarzen Linien und vibrierenden Farben ist sofort erkennbar - wer kennt nicht die tanzenden Hunde, die strahlenden Babys und die charakteristischen Strichmännchen? Sie leben weiter - gedruckt auf Kleidung, Turnschuhen, Tassen, Spielzeug, Postern und so weiter - auf der ganzen Welt. Vielleicht heute mehr denn je, weil seine sozial und politisch aufgeladene Kunst mit dem aktuellen Zeitgeist übereinstimmt, in dem soziale Bewegungen wie #BlackLivesMatter und #MeToo breite Anerkennung und Anhängerschaft finden. Daher auch die Flut von Modekooperationen, Ausstellungen und Büchern und zuletzt eine Biografie des guten Freundes und britischen Modepioniers Simon Doonan. Grund genug für uns, mit Doonan über seine Erinnerungen an die epischen 1980er-Jahre in New York zu sprechen - die Ära, in der Keith Haring aufblühte - und warum der Künstler immer noch relevant ist.

Moco Roof Keith Haring Mural

Keith Haring paints a large mural at East Houston Street and the Bowery.

This installation is said to be Haring’s first large-scale public work, summer 1982.

East Village

Der 1958 in Reading, Pennsylvania, geborene Kleinstadtjunge Keith Haring zog im Alter von 20 Jahren nach New York, wo er 1978 die School of Visual Arts besuchte. Zu dieser Zeit blühte die Underground-Kunstszene bereits, und das East Village mit seinen günstigen Mieten und seinem multikulturellen, sexuell befreiten Publikum war eine Brutstätte der zeitgenössischen Kultur. Kunst, Aktivismus, Mode, Hip-Hop, Graffiti und Computerspiele trafen aufeinander. Es war diese elektrisierende Energie der frühen 1980er Jahre, von der der junge Künstler mitgerissen wurde. Inspiriert von der alternativen Kultur und der brennenden Leidenschaft, Kunst zugänglich zu machen, ging Haring auf die Straße, um sich auszudrücken, und tauchte schnell in die Graffitikultur der Stadt ein. Von U-Bahn-Stationen bis hin zu den Wänden Manhattans und darüber hinaus prägten sich seine ikonischen Cartoon-Figuren schnell in die Köpfe von Kunstliebhabern und Pendlern gleichermaßen ein. Zu dieser Zeit begann er, experimentelle Kunsträume und Nachtclubs zu besuchen, wo er nicht nur Doonan kennenlernte, sondern auch enge Freundschaft mit einer neuen Generation bahnbrechender junger Künstler wie Jean-Michel Basquiat, Kenny Scharf und Futura 2000 schloss.

Simon Doonan: „New York war für Haring von grundlegender Bedeutung. Wenn man ein kreativer Mensch war, ein Schwuler, ein Neugieriger, ein Suchender, verließ man seine Heimatstadt. Es gab keinen anderen Weg. Man muss sich vergegenwärtigen, dass es damals noch keine sozialen Medien, kein iPhone, kein Internet gab. Man musste wirklich rausgehen. Und der Zauber des Verlassens der Heimatstadt lag für ihn darin, dass es keine sozialen Medien gab. Wenn man weg war, war man wirklich weg, also konnte man sich neu erfinden. Man wurde nicht kontrolliert, es gab keine schrecklichen Tweets, die einen verfolgen konnten, und niemand filmte einen, während man etwas völlig Verrücktes tat. Es herrschte totale Freiheit, nur die Geografie war zu überwinden. Schwule, Künstler, Kreative, unkonventionelle Menschen und Außenseiter - wir alle haben das ausgenutzt und sind in den Greyhound-Bus gestiegen.“

New York war also der perfekte Ort für Haring, um sich zu entfalten. Aber es war auch der Hintergrund dieser Ära, die 1980er-Jahre, die zum Aufstieg von Haring als Künstler, Aktivist und Rebell beitrugen. In jenen Jahren kam alles in einer Weise zusammen, wie es zuvor nicht der Fall gewesen war.

„In den 1970er-Jahren hat sich die Kunst von der Mode ferngehalten, weil sie der Meinung war, dass die Mode vergänglich ist und die Kunst zersetzt und verbilligt. Aber dann kamen die 1980er-Jahre, gleich nach den Punk-Jahren. Punk hatte alle irgendwie befreit, es gab keine Regeln mehr. Alles konnte alles sein. Es gab Künstler wie Stephen Sprouse, die begannen, Graffiti auf ihre Kleidung zu malen. Wenn die Leute also schlecht über die 1980er-Jahre reden und sagen, sie seien kitschig und geschmacklos gewesen, dann verkennen sie den Zauber dieses Jahrzehnts. Betrachten Sie es als eine Post-Punk-Explosion, und Leute wie Keith Haring nutzten die Vorteile dieser neuen Welt, in der alle vorgefassten Meinungen über den Haufen geworfen wurden. Sie konnten die Landschaft neu erfinden.“

Moco Roof Keith Haring Portrait
Moco Roof Keith Haring Grace Jones

DER MUDD CLUB & CLUB 57

In jenen Tagen feierte Haring so heftig wie er malte. Während er tagsüber in der U-Bahn herumfuhr und alles und jeden - von Bürgersteigen bis zu Telefonmasten - mit seinen kleinen Kreidefiguren beschmierte, besuchte er nachts schwule Badehäuser, den berüchtigten S&M-Sex-Club The Anvil und die legendären Underground-Locations Mudd Club und Club 57 in der Innenstadt. Beide wurden als Reaktion auf den glitzernden, glamourösen Disco-Nachtclub Studio 54 gegründet, der für seine Nebelmaschinen, Konfettikanonen und angesagten VIP-Stammgäste bekannt war. Der Mudd Club und der Club 57 hingegen waren das Gegenstück zum Glamour der Uptowns. Diese Clubs waren die Heimat der Gegenkultur und wurden zu den Treffpunkten von Keith Haring, Jean-Michel Basquiat, Kenny Scharf und anderen. Vor dem Hintergrund des bankrotten New York, in dem die Rezession wütete und die Kunst- und Galerieszene für junge Künstler praktisch unzugänglich war, bildeten die Kreativen hier ihre eigene Welt. Infolgedessen gründete die künstlerische Avantgarde ihre eigenen Galerien und Clubs und stellte die Kunst und die Ideen, die in den Uptown-Museen und SOHO-Galerien zum Ausdruck kamen, in Frage. Keith Haring, einer der führenden Köpfe dieser Avantgarde, hatte die geniale Idee, einen Raum im vierten Stock des Mudd Club in eine Late-Night-Galerie zu verwandeln und organisierte im Club 57 spontane Kunstausstellungen wie die „First Annual Group Erotic and Pornographic Art Exhibition“ - ein Raum für Punk-Rock-Feminismus, Männerkabarett, Drag und Performancekunst. Kenny Scharf erinnert sich Jahre später: „Im Club 57 gab es Drogen und Promiskuität - es war eine einzige große Orgien-Familie. Manchmal schaute ich mich um und sagte: Oh mein Gott! Ich habe mit jedem in diesem Raum Sex gehabt! Das war einfach der Zeitgeist - und das war noch vor AIDS.“

Artwork Keith Haring Garden of Radio Delight

KUNST FÜR DAS VOLK

Zu dieser Zeit war der Name „Keith“ in aller Munde. Sein Ruhm wuchs, doch die traditionelle Kunstwelt war skeptisch; sie dachten, er mache - leichte - Kunst, weil er vergängliche Kunst im öffentlichen Raum machte - er zeichnete auf alles und gab es jedem, der es wollte. Der Künstler schien sich nicht daran zu stören. Im Herzen ein Rebell, bekämpfte er die elitäre Kunstwelt, die er für eine diskriminierende Institution hielt.

„Keith dachte, Kunst sei lächerlich. Sie steckte in Galerien fest, war sehr elitär, oft sehr obskur, Künstler versuchten, unverständlich zu sein, um als esoterischer angesehen zu werden. Haring hingegen war sehr darauf bedacht, Kunst für die Menschen zu schaffen. Er war der Meinung, dass die breite Öffentlichkeit nicht die Kunst bekam, die sie verdiente. Ja, er hatte sehr ausgefeilte Ideen, aber er kommunizierte tatsächlich direkt mit den Menschen. Sein Ziel war es immer, Kunst zugänglich zu machen; es ging ihm mehr darum, das Bewusstsein zu schärfen, als Kapital zu beschaffen.“


Genau wie sein Mentor Andy Warhol war Haring eindeutig „Pop“. Allerdings hatte er ein viel stärkeres und ethischeres soziales Gewissen und einen großzügigeren Geist als Warhol. Haring wollte, dass die Menschen seine Kunst sehen und sich mit ihr auseinandersetzen - er war sehr großzügig, sensibel und integrativ. Ein Großteil seiner Arbeit war eine Art Propaganda für Mitgefühl.

„Ich glaube, er ist durch Idealismus und Altruismus zu diesem Aktivismus gekommen. Sein Aktivismus hatte einen sehr unbeschwerten Touch. Er war sensibel für Ungerechtigkeit, aber er war kein Prediger und lief nicht schreiend herum. Er war sehr praktisch veranlagt. Er erkannte die Macht der Kunst, um zu den Menschen zu sprechen und sie zu sensibilisieren. Interessant ist auch, dass all die aktivistischen Anliegen, für die er sich einsetzte, ihm vertraut waren. Er hatte einen Assistenten, der cracksüchtig war, und so fragte er sich: „Was kann ich tun? Ich kann keine Leute wegen Crack-Sucht behandeln, aber ich kann ein Wandbild machen! Und so entstand das berühmte Wandbild 'Crack Is Wack' (Crack ist Dreck) in Uptown Manhattan. Keith interessierte sich auch für Vielfalt, da er einen sehr vielfältigen Freundeskreis hatte; seine Freunde waren Latinos oder Schwarze, was ihn für Themen wie Rassismus sensibilisierte. Auch hier dachte er nur: „Oh, ich weiß, was ich tun kann, ich bin Keith Haring, ich kann tausend Plakate mit dem Bild ,Free South Africa‘ anfertigen“ - und genau das tat er dann auch, signierte sie und verschenkte sie bei einer großen Kundgebung im Central Park. AIDS traf ihn sehr direkt, denn er war schwul und die gesamte schwule Gemeinschaft war von dieser schrecklichen Krankheit betroffen. Seine „Safe Sex“-Plakate werden immer noch verwendet. Sie sind wunderbar, sie sind wirklich lustig. Yoko Ono sagte einmal über Andy Warhol, dass er alltägliche, einfache Dinge nahm und sie geheimnisvoll und komplex machte, wie zum Beispiel Suppendosen. Plötzlich werden sie zu einer wirklich wichtigen, geheimnisvollen Sache. Warhol verlieh alltäglichen Gegenständen Grandiosität. Keith Haring hingegen tat das genaue Gegenteil, beobachtete Yoko Ono. Er nahm überwältigende Dinge wie AIDS, Drogensucht und Rassismus und machte sie auf irgendeine Weise erträglich. Etwas, dem man begegnen könnte, ohne zurückzuschrecken. Er verlieh ihnen einen Hauch von Humor. Sein Aktivismus hat immer einen gewissen Humor, der ihn noch stärker macht, kombiniert mit einer unglaublichen Ernsthaftigkeit. Wenn man darüber nachdenkt, ist das wirklich clever.“

Madonna und Grace Jones

Was die Kombination von Humor und Ernsthaftigkeit angeht, könnte man sagen, dass Banksy das moderne Äquivalent zu Haring ist. Nur dass Keith Haring keine Anonymität wollte; er liebte es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und wollte, dass jeder wusste, wer er war. Er ging in Clubs, zu Vernissagen und veranstaltete Partys.

„Zu dieser Zeit schloss er eine enge Freundschaft mit Madonna. Madonna ist sozusagen das musikalische Äquivalent zu Haring; sie liebte es, ein Pop-Art-Popstar zu sein. Sie hatte interessante Songs, die vom Leben handelten - Papa Don't Preach' handelte davon, schwanger zu werden, ohne verheiratet zu sein -, und sie war beliebt, weil sie die Menschen direkt mit der Realität konfrontierte, genau wie Haring es tat. Sie sprachen viel über Kunst und darüber, dass sie von bestimmten Kreisen von Kritikern nie den Respekt bekamen, den sie ihrer Meinung nach verdienten. Dennoch arbeitete Haring mit jedem, der zu dieser Zeit interessant war, zusammen. Er hat etliche Projekte mit Grace Jones gemacht, ihren Körper bemalt, an ihren Videos gearbeitet, unglaubliche Sachen. Sie ist ein absolutes Original, ein echtes Unikat. Die Androgynität, die skulpturale Natur ihrer Darstellung. Es ist schwer, sich jemand Beeindruckenderes in dieser Welt vorzustellen - und Keith wusste sie voll und ganz zu schätzen.“


In der Zwischenzeit trafen neue Sammler ein und pumpten Geld in einen zuvor zum Scheitern verurteilten Markt. Im East Village entstanden zahlreiche neue Galerien, und die Kunstwelt wurde auf Haring aufmerksam. Scheckbücher wurden geöffnet und die Medienaufmerksamkeit stieg sprunghaft an. Haring war begeistert, doch der Sieg war bittersüß. Die AIDS-Krise war in voller Blüte, und sie traf New York hart und schnell. Als bei Haring 1987 HIV diagnostiziert wurde, war das ein verheerender Schlag für den damals 29-Jährigen, doch er entschied sich, der Krankheit frontal zu begegnen, und sein Drang zu malen war größer denn je. Zu dieser Zeit entstanden viele Gemälde, die sexuelle Handlungen und phallische Strichzeichnungen darstellten, mit denen er auf HIV/AIDS aufmerksam machen wollte. Schließlich starb Haring 1990 im Alter von 31 Jahren an den Folgen von AIDS und hinterließ ein großes Erbe. Im Jahr 1989 sagte er seinem Biographen voller Stolz: „Die Werke, die ich geschaffen habe, werden für immer bleiben. Es gibt Tausende von realen Menschen, nicht nur Museen und Kuratoren, die von meiner Arbeit beeinflusst, inspiriert und gelehrt wurden... also wird die Arbeit noch lange weiterleben, wenn ich nicht mehr da sein werde.“

„Er hatte damit absolut Recht. Die Jugendlichen werden jetzt seine Arbeit entdecken und sie als so frisch empfinden! Sie sehen es zum ersten Mal und es spricht sie direkt an. Sie fragen sich: ,Was, der ist 1990 gestorben?!' Das liegt daran, dass seine Arbeit immer noch sehr gegenwärtig und im Moment verankert ist. Heutzutage kann man seine Arbeit über die sozialen Medien zeigen, aber damals, Jahrzehnte vor der Art Basel, war die Kunst sehr frei beweglich. Wenn Keith heute noch leben würde, wäre er bestimmt voll auf Tik Tok. Er ist perfekt für Tik Tok, in 20 Sekunden würde er ein Bild malen. Wenn man darüber nachdenkt, ist es so traurig, dass er das verpasst hat: Er hätte sich all diese neuen Medien geschnappt und sie interessant gemacht, und die Leute herausgefordert, neue Wege zu finden, sie zu nutzen. Er wäre überall in den sozialen Medien unterwegs gewesen, völlig süchtig danach und gut darin.“
Obwohl er 1990 starb, ist Keith Haring in vielerlei Hinsicht noch immer lebendig. Es gibt Haring-T-Shirts, Haring-Schuhe, Haring-Stühle, Hüte, Spielkarten, Schlüsselanhänger - seine Werke sind überall, fröhlich und sofort erkennbar, wie Graffiti-Tags oder kleine Zeichen, die sagen: „Keith war hier“. Darüber hinaus hat seine Stiftung seit seinem Tod Hunderte von Projekten in den Bereichen Jugend, Gemeinschaft, Kunst, LGBTIQ+, Safe-Sex und geplante Elternschaft unterstützt, die zum Teil durch die Einnahmen aus den verkauften Haring-Gadgets finanziert wurden.

„Der Kern seines Erfolgs und seiner Arbeit ist Einfühlungsvermögen. Man kann nicht so kommunikativ sein, ohne ein einfühlsamer Mensch zu sein. Wenn er in der U-Bahn Symbole zeichnet, weiß er, was die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen wird: Babys, fliegende Untertassen, Männer mit Löchern im Bauch. Das kommt von einer gewissen Empathie. Er ist ein einfühlsamer Mensch, und das ist der Grund, warum seine Kunst immer noch so beständig ist, so geliebt und genossen wird.“

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